Chemnitz wird 2025 Kulturhauptstadt Europas – meine Reportage im Sonntagsspaziergang des Deutschlandfunk
Autor: Robert B. Fishman
Chemnitz, Sachsens drittgrößte Stadt, hat nach der Wende fast ein Viertel seiner Einwohner verloren. Nach dem Ende der DDR schlossen die meisten Betriebe. Heute hat Chemnitz mit den höchsten Altersdurchschnitt aller deutschen Städte und belegt in Städterankings meist einen der letzten Plätze. Doch inzwischen ist der Schwund gestoppt. Die Einwohnerzahl stagniert bei 245.000. In leerstehende Gründerzeithäuser und aufgegebene Industriebauten der vorletzten Jahrhundertwende werkeln Künstler und junge Unternehmen. Die Stadt bietet, was sie anderswo nicht finden: Reichlich Platz und viele Marktlücken, die hier noch niemand besetzt hat. Die Kehrseite: Chemnitz zieht Neonazis aus ganz Deutschland an, die nicht nur das Image der Kulturhauptstadt Europas 2025 ruinieren. Doch immer mehr Menschen wehren sich gegen die Rechten.
Leben und Feiern im Kompott
Das alternative Kulturzentrum und Wohnprojekt Kompott in der Seniorenhauptstadt Chemnitz. Die Hälfte der Chemnitzerinnen und Chemnitz ist älter als 52. Die Stadt hat mit den höchsten Altersdurchschnitt in Europa. Hier merkt man davon nichts. Junge Leute sitzen auf alten Stühlen und Sesseln auf dem Bürgersteig. Hinter der Fensterscheibe zur Kneipe flimmert ein Röhrenfernseher. Darauf spielen zwei junge Frauen durch die Scheibe mit einer Wii.
Wenn gerade keine Pandemie den Betrieb behindert, öffnet einmal pro Woche die Volksküche. Nachmittags wird gemeinsam gekocht. Mitessen darf dann wer kommt. Jede und Jeder zahlt, was er oder sie kann. Die Stadt hat die heruntergekommenen Häuser an der Leipziger Straße einst Hausbesetzern überlassen. 2016 haben sie die vier Mietshäuser aus den 50er Jahren dann gekauft und renoviert. Die Miete zahlen sie an die Gemeinschafts-GmbH, der die Häuser nun gehören.
Rebecca Wieland:
Also es gibt einige WGs. Es gibt auch Familien und Pärchen und es gibt auch Leute, die einfach alleine wohnen in einer Wohnung. Also die meisten Wohnungen haben so 50 Quadratmeter… Der Kalt-Mietpreis ist 3,50 pro Quadratmeter.
erzählt Rebecca Wieland. Sie wohnt seit neun Jahren hier im Kompott. Das Prinzip: Jede und jeder hat seine eigene Wohnung. Dazu gibt es Gemeinschaftsräume, für die alle zusammen aufkommen.
Rebecca Wieland:
…. also den Umsonstladen hier unten, das Lese-Café und dann auch den Club Zukunft .… Und ansonsten gibt es noch eine Gäste-Wohnung. … Und dann haben wir noch eine sehr schöne Gemeinschaftseinrichtungen und zwar die Sauna…. in einer 50 Quadratmeter Wohnung haben wir eine Sauna eingebaut … und auf der anderen Seite ist noch so ein Chill- Relax Wellness Raum. … die Sachen können alle von den Leuten gemeinsam genutzt werden.
Im Sommer treffen sich die Bewohnerinnen und Bewohner auf dem gemeinsamen Hof oder im Garten.
Rebecca Wieland:
…Hier sind Zucchini, Tomaten, Kartoffeln, Kapuzinerkresse, alle möglichen Küchen-Kräuter hier drauf, … sowie Thymian … Bohnenkraut und Rüben darunter Minze … und dann noch ein paar Wasserpflanzen….Die Sachen in den Hochbeeten haben wir ja mit guter Erde aufgefüllt.
Die meisten Pflanzen wachsen in Hochbeeten mit geschlossenem Boden, weil niemand weiß, was an giftigen Altlasten im Boden steckt.
Garten Haus und Hof verwalten die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam. Robert, Mitgründer des Kompott, wurde das irgendwann zu mühsam. Der gelernte Zimmermann ging auf die Walz, war in Frankreich, Spanien und Marokko. Zurück in Chemnitz bietet er politische Stadtrundgänge an. Vor einem Wohnhaus am Rande der Innenstadt erzählt er die Geschichte des Kompott:
Robert:
… Eine Woche nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2008 wurde das Gebäude besetzt, was wir uns gleich angucken. Und daraus ist das dann alles entstanden. Und bis heute ist das Kompott ja auch ein politischer Ort. Stand lange Zeit im Verfassungsschutzbericht, ungerechtfertigterweise. Und gleichzeitig hat es auch den Demokratie-Preis der oder den Friedenspreis der Stadt Chemnitz gewonnen für eine gute Zusammenarbeit mit Flüchtlingen. …
Robert kennt die Geschichte und Geschichten seiner Heimatstadt.
Neonazis als Wachleute
Unterwegs zeigt er auf einen jungen Mann, der als Sicherheitsmann den Eingang zum Bürgerfest bewacht. Ein stadtbekannter Neonazi sei das.
Die jüngste Stadtgeschichte teilt sich für viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer in „vor und nach August 2018“. Damals machten Rechtsradikale Jagd auf vermeintliche oder tatsächliche Ausländer, griffen Journalisten und Gegendemonstranten an. Zeitungen in aller Welt berichteten darüber, auch die New York Times in den USA. Auslöser war der Tod eines Deutsch-Kubaners. Ein syrischer Flüchtling hatte den Mann im Streit auf dem Stadtfest erstochen.
Robert:
Zu der Zeit hat die Polizei immer wieder betont,… dass sie nicht damit gerechnet haben, mit der Stärke, mit der Masse und der Aggressivität der Leute. Was ziemlich unglaublich wirkt, weil selbst die Band Kraftklub hat Jahre zuvor schon in einem Lied, das Karl-Marx-Stadt heißt, davon gesungen, dass sie aus einer Stadt kommen, die voll ist mit Rentnern, Nazis und Hools.
Deswegen ist es schon sehr unglaublich, dass eine Band von ein paar Chemnitzer Jungs das besser einschätzt als eine Polizei, die dafür sehr viel Geld kriegt… .
Das breite Medienecho auf die rechte Randale hat die Stadt aufgerüttelt.
Julia Voigt leitet das Kulturzentrum Weltecho im Gebäude eines ehemaligen Zeitungsverlag aus dem 19. Jahrhundert.
Julia Voigt:
Das ist ein Thema für mich, das macht mich schon immer sehr emotional, weil ich bin gebürtige Chemnitzerin…. wir haben jahrelang, immer und immer wieder gegen rassistische Strukturen in der Stadt gekämpft… Wenn du nicht eindeutig rechts warst, dann musstest du so ein bisschen um dein Leben bangen.
…Und dann 2018. … Ich glaube, da ist nur zum Ausdruck gekommen, was jahrelang falsch lief,… es gab nie einen aktiven Kampf von der Politik,… irgendwas dagegen zu machen.
Hand in Hand für Toleranz
Im Spätsommer 2018 gründete die heute 25jährige mit einigen Freundinnen und Freunden den Verein „Hand in Hand“, der sich für mehr Austausch, Kultur und die Zivilgesellschaft in der Stadt einsetzt.
Julia Voigt:
Also wir müssen jetzt anfangen, einfach zu intervenieren und nicht immer nur zu reagieren, sondern aktiv andere Dinge hervorzubringen…
Weiter zurück in die Geschichte führt Roberts Tour auf den Kaßberg, einem der größten Jugendstil- und Gründerzeitviertel Mitteleuropas.
Robert:
Hier auf dem ehemaligen Gefängnis soll ein Lern und Gedenkort… entstehen. … Die Zellen sind immer noch erhalten .… Gegebenenfalls könnte man hier vielleicht auch Zeitzeugen-Gespräche machen mit Menschen, die hier inhaftiert waren…. Und nach langem Ringen haben sich dann auf Landesebene … die Leute … geeinigt, dass das nicht nur ein Gedenkort wird für die Leute, die hier in DDR-Zeiten saßen, …sondern dass es auch um die NS-Zeit geht.
Bis in die 30er Jahre lebten auf dem Kaßberg viele Jüdinnen und Juden.
Robert:
Es ist zu sehen, wie die Synagoge angezündet wurde … Schaulustige zugucken… Inhaftierte sind hier ausgestellt, die durch die Bombardierung am 5. März fliehen konnten, aber kurz darauf von Chemnitzerinnen und Chemnitzer verraten wurden und dann… hingerichtet wurden, kurz vor Kriegsende.
Ein weiterer Teil der Ausstellung dokumentiert, wie die Bundesrepublik Häftlinge der DDR freikaufte.
Robert:
Das waren vor allem Leute, die Propaganda-Delikte gemacht haben…oder die auch mehrfach nicht zur Armee erschienen sind.… Am Anfang waren es noch 20.000 D-Mark. … Am Ende hat man hier 93.000 D-Mark pro Häftling bezahlt und es gab sogar extra ein Busunternehmen, … das zwei Busse hatte mit Wechsel-Kennzeichen, die die Leute dann hier in Chemnitz bzw. Karl-Marx-Stadt abgeholt hat und nach Gießen gefahren haben, wo die Leute dann aufgenommen wurden.
Die DDR hatte Chemnitz Anfang der 50er Jahre in Karl-Marx-Stadt umbenannt, obwohl Karl Marx hier nie gewesen ist. 40 Jahre später stimmten die Chemnitzer dann für die Rückbenennung ihrer Stadt. Bleiben durfte die sieben Meter hohe und 40 Tonnen schwere Skulptur des Kopfes von Karl Marx in der Innenstadt. Der Nischel, wie sie den Kopf hier nennen, wurde zum Wahrzeichen der Stadt. Er ziert heute T-Shirts, Schnapsflaschen und anderen Nippes.
Einst war Chemnitz Zentrum des deutschen Maschinenbaus und der Autoindustrie, um 1900 Deutschlands reichste Stadt. Nach dem Ende der DDR schlossen die meisten Betriebe, unrentabel, abgewickelt oder von der westlichen Konkurrenz aufgekauft und stillgelegt.
In den 80er Jahren zählte Karl-Marx-Stadt rund 360.000 Einwohner. Heute sind es rund 245.000. Fast ein Viertel ist fortgezogen. „Älteste Stadt Europas“, prophezeite die Forschung.
Doch immer mehr Chemnitzerinnen und Chemnitzer pfeifen auf derlei Prognosen – Lars Fassmann zum Beispiel. Seine IT- Firma Chemmedia arbeitet für Kunden auf der ganzen Welt. Einen großen Teil seiner Gewinne investiert er in die Zukunft seiner Heimatstadt.
Der Häuserretter von Chemnitz
Mehr als 30 alte Häuser hat er zusammen mit seiner Partnerin Mandy Knospe gekauft. Die meisten davon überlässt er Künstlern und anderen Kreativen zum Selbstkostenpreis.
Lars Fassmann:
Als Unternehmer bin ich immer bestrebt, … Win-win-win-Situationen zu finden, natürlich für’s eigene Unternehmen, natürlich für Kunden, .… Und wenn man das .. gesellschaftlich sieht, in der Stadt, ist man auch bestrebt,… ne Win-Situation für die Gesellschaft zu finden. … es dient den Nutzern, dass die die Freiräume bekommen, dort künstlerisch-kulturelle Projekte zu verwirklichen, was natürlich auch gesellschaftlich wieder interessant ist. Es ist sicherlich auch unternehmerisch nicht uninteressant, weil es eine steuerliche Vergünstigung gibt für solche Investitionen. Und es ist natürlich auch politisch interessant, dort einfach mal auch Alternativen zu Abrissen, Rückbau aufzuzeigen… .
Auf dem Sonnenberg zum Beispiel standen noch vor fünf Jahren ganze Häuserzeilen leer. Die Mietskasernen aus der Gründerzeit verfielen. Für ein paar Tausend Euro konnte man sie erwerben.
Lars Fassmann und Mandy Knospe haben die ehemalige Sparkasse gekauft. Unten ist der Club Nikola Tesla eingezogen, darüber gibt es Wohnungen und Ateliers. Gegenüber hat das Lokomov eröffnet: Kneipe, Club, Wohnungen und Knospes Galerie „Hinten“.
Mandy Knospe:
Die Räume bauen sich die Leute selber aus . … Es sind verschiedene Künstler, Druckgrafiker, der Chaos Computer Club, Fotografen, …
In einem anderen ihrer Häuser haben Studierende den Späti eröffnet, eine Mischung aus Laden, Kiosk und Club. Die Brachfläche gegenüber ist zum kleinen Nachbarschaftspark mit Blumenwiese, Sitzbänken und Tischtennisplatte geworden. „Herzlich willkommen im Zietenpark. Habt Spaß und fühlt Euch wohl“, steht auf dem Schild am Eingang. Nebenan baut der Verein Kulturtragwerk Sachsen eine verfallene Mietskaserne zum Projekthaus mit Werkstätten, Ateliers und einem Generationencafé um.
Auch im Nachbarviertel Brühl haben junge Leute leerstehende Häuser gekauft und renoviert. 2006 hatte die Stadt beschlossen, hier Künstler und andere Kreative anzusiedeln.
Der Brühl blüht auf
So ist in die einst erste Fußgängerzone von Karl-Marx-Stadt nach Jahren des Verfalls neues Leben eingezogen: Cafés, ausgefallene Läden, Galerien.
Micha Spiegler hat vor Jahren eines der verfallenen Häuser auf dem Brühl gekauft und mit Freunden saniert. Unten ist das Café Dreamers eingezogen:
Micha Spiegler:
Hier gibt es z.B. eine Galerie für Straßenkunst als Street Art Gallery … Und da gibt es Inspire Kids. Das ist wie so ein Jugendclub… und zum Beispiel das Dreamers, was irgendwie schon auf ökologische und nachhaltige Produkte setzt und deswegen vielleicht es in Chemnitz sonst auch ein bisschen schwieriger hätte, wenn sie normale Mieten zahlen müssten.
Zwei Querstraßen weiter Richtung Bahnhof serviert das Restaurant Schalom koschere Spezialitäten aus Israel und der jiddischen Küche Europas. Inhaber Uwe Dziuballa wird immer wieder von Rechtsradikalen bedroht und angegriffen. Davon lassen sich er, seine Familie und seine Angestellten jedoch nicht beirren:
Uwe Dziuballa:
… Natürlich … ist das negativ, was 2018 hier passiert ist und das ist weder zu entschuldigen noch zu relativieren.… Aber wenn ich dem entgegensetzen darf, wenn ein 94, 96-jähriger Herr am Tisch sitzt,… seine Familiengeschichte erzählt hat, also ’38 noch aus Deutschland raus .… Und dann isst er hier unsere Hühnersuppe mit Knejdlach Und plötzlich fängt er an … zu weinen.… Und er meint Das ist der Geschmack der Hühnersuppe wie von seiner Mutter…. an so was richte ich mich eher auf, als dass ich nur fünf Minuten länger über solche Steineschmeisser nachdenken möchte.
2025 wird Chemnitz Kulturhauptstadt Europas. Das sächsische Mauerblümchen hat sich im Wettbewerb gegen illustre Konkurrenz wie Nürnberg und Dresden durchgesetzt. Wie viele politisch und kulturell Engagierte freuen sich Uwe Dziuballa und Micha Spiegler über den Titel:
Micha Spiegler:
….Das ist die letzte Chance für Chemnitz, würde ich sagen, von daher ist es eine sehr gute Sache…. Weil Chemnitz eigentlich wirklich eine sterbende Stadt war und irgendwie nie das bekommen hat, was es bräuchte. Und jetzt durch diese Intervention von außen sowohl Geld als auch Menschen kommen, die hier noch ein bissel für so ein Mindestmaß an Kultur oder Internationalität sorgen können.
Nun ist es an Chemnitz, diese Chance zu nutzen.
Meine früheren Reportagen aus Chemnitz finden Sie / findet Ihr hier und hier