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Überraschendes Magdeburg: Platz für Ideen

Er hat kleine Ohren und sieht etwa so aus, wie eine Mischung aus Fabeltier und Straßenköter. „So haben sich die Steinmetze einen Elefanten vorgestellt. Sie haben ja nie einen gesehen“, erzählt Stadtführer Wolfgang Gehlfuß und zeigt auf ein seltsames Tier, das die Erbauer des Magdeburger Doms an einer Säule der Kathedrale verewigt haben. Nebenan geht es ins Paradies.

Mein „Sonntagsspaziergang“ im Deutschlandfunk:

von Robert B. Fishman

Er hat kleine Ohren und sieht etwa so aus, wie eine Mischung aus Fabeltier und Straßenköter. „So haben sich die Steinmetze einen Elefanten vorgestellt. Sie haben ja nie einen gesehen“, erzählt Stadtführer Wolfgang Gehlfuß und zeigt auf ein seltsames Tier, das die Erbauer des Magdeburger Doms an einer Säule der Kathedrale verewigt haben. Nebenan geht es ins Paradies. Da lachen und heulen Reihen von steinernen Jungfrauen von der Wand. Die einen haben’s kapiert, die anderen nicht. „Sie haben das Öl ihrer Lampen verschüttet und sehen das Licht des Herrn nicht“, erklärt der Stadtführer schmunzelnd. Die Skulpturen in der „Vorhalle des Paradieses“ waren „die ersten, auf denen Bildhauer emotionale Gesichtsausdrücke sichtbar gemacht haben“. Wer, wie die meisten Touristen, nur kurz durch den Dom geht, übersieht die vielen Geschichten, die die Kathedrale erzählt. In der Stadt ist es nicht anders.

Dom zu Magdeburg hinter den goldenen Kugeln des Hundertwasser-Hauses/ Magdeburg Cathedral behind the golden balls of Green Citadel, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman
Dom zu Magdeburg hinter den goldenen Kugeln des Hundertwasser-Hauses, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Jahrhunderte im Blick

„Wenn man sich an einer beliebigen Straßenecke einmal um sich selbst dreht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass man direkt mit der Geschichte der Stadt konfrontiert wird“, sagt Marlen Schachinger: Ein Bau erzählt vom Mittelalter, nebenan steht ein DDR-Plattenbau oder die mächtigen Blocks im stalinistischen „Zuckerbäcker“-Stil und dann ein Neubau. Schachinger kam im März als Stadtschreiberin nach Magdeburg. Die ersten zwei Wochen saß sie in einer Wohnung gegenüber dem Bahnhof in Corona-Quarantäne und schaute auf das Stadtzentrum: Im Krieg weitgehend zerstört, anschließend schnell wieder aufgebaut: DDR-Architektur, zwei Shopping-Malls aus den 90ern, breite, real-sozialistische Boulevards.

„Die Menschen zu ihren Füßen ‚waren vor allem bestrebt, schnell wieder zu verschwinden“, erinnert sich die Österreicherin an ihre ersten Tage in der Stadt. „Man sitzt dann oben, guckt hinunter und fragt sich: Existiert diese Welt überhaupt?“ Nach 14 Tagen durfte Schachinger raus und hat Magdeburg schätzen gelernt. Der Ton: erst mal rau und wie sie sagt „eckig“, aber „nicht eckig gemeint“.

Magdeburg hat Platz für Ideen

2020 bewarb sich Magdeburg um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Der erste Titel der Bewerbungsschrift „Out of the Void“, frei übersetzt „Aus der Leere“. Platz hat die Stadt, sogar im Zentrum, scheinbare sinnlose Freiflächen, zum Beispiel zwischen Dom und Elbe, die beim Wiederaufbau übrig geblieben sind. Ihre Bewerbung hat die Stadt später in „Force of Attraction“ umbenannt.

Denkmal in Magdeburg erinnert an den Halbkugelversuch, mit dem Otto von Guericke im 17. Jahrhundert das Vakuum nachgewiesen hat
Denkmal in Magdeburg erinnert an den Magdeburger Halbkugel-Versuch, mit denen Otto von Guericke 1657 in Magdeburg die Wirkung des Vakuums nachgewiesen hat, 27.8.2020, Foto: Robert B. Fishman

Damit nahm sie Bezug zum Halbkugelversuch des Magdeburger Gelehrten Otto von Guericke. Im 17. Jahrhundert ließ er die Luft aus zwei aneinander gelegten, abgedichteten Halbkugeln pumpen. Anschließend sollten zwei Pferdegespanne versuchen, die beiden Kugelhälften auseinanderzuziehen. Sie schafften es nicht. Damit hatte Guericke erstmals die Wirkung des Vakuums und des Luftdrucks nachgewiesen. Heute erinnert eine Statue an das Magdeburger Halbkugel-Experiment. Guerickes Versuch war gelungen, die Kulturhauptstadtbewerbung scheiterte. Der Titel ging 2020 nach Chemnitz.

Kunstautomat in Magdeburg
Kunstautomat an einer Straße in Magdeburg -Buckau / art machine in Magdeburg Buckau, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Verloren und gewonnen

Magdeburg macht das Beste draus. Aus den Kulturhauptstadt-Plänen wurde ein Kulturentwicklungsplan 2030. Schon der Bewerbungsprozess habe ein „neues Miteinander“ in der Stadt geschaffen, lobt Magdeburgs Kultur-Beigeordnete  Regina Stieler-Hinz. Stadt und die vielen freien Kulturschaffenden arbeiteten jetzt enger zusammen und hätten „viel Verständnis für die jeweils andere Seite“ entwickelt. Entstanden ist aus der Bewerbung der jährliche Kultursommer, der Plan für eine große Gemeinschaftsausstellung der Museen unter dem Titel „Feeling East“ und viele weitere Projekte, darunter die Erweiterung des Magdeburger Puppentheaters.

Nach der „Wende“ wäre die osteuropäische Tradition des Puppentheaters fast verloren gegangen. Das Magdeburger Puppentheater, eines der größten und bedeutendsten der DDR, sollte wie so vieles „abgewickelt“ werden. Heute bringt das Theater mit einem Budget von 3,5 Millionen Euro und zehn professionellen Puppenspieler*innen zahlreiche auch internationale Produktionen auf die Bühne. Gespielt werden mit den Puppen auch modern inszenierte Klassiker wie „Der Schimmelreiter“ nach Theodor Storm oder Shakespeares „Richard III“. „Wir sind immer ausverkauft“, freut sich Intendant Michael Kempchen. Zur Hälfte kämen Erwachsene, davon gut ein Drittel 18 bis 35-jährige.

Ganz großes Puppentheater

Westdeutsche denken bei Puppentheater an Kinderprogramm, Kasperle und andere Marionetten. Tatsächlich jedoch entstand in Osteuropa – ausgehend von der Sowjetunion – eine Tradition von Theaterstücken mit lebensgroßen Puppen, die die Schauspieler*innen mit den Händen bewegen. Die Anforderungen sind hoch. Das Magdeburger Puppentheater beschäftigt nur diplomierte Spieler*innen, die singen und möglichst auch ein Instrument spielen können. Sie müssen auf der Bühne nicht nur mit hoher Präsenz eine Rolle spielen, sondern auch – zum Teil auf Knien oder liegend – die Puppe bewegen. Dabei müssen sie die Konzentration der Zuschauer*innen auf die Puppe als Hauptfigur lenken.

Diplomierte Puppenspieler

Studieren kann man das Fach an der Hochschule für Schauspielkunst in Ost-Berlin. In einem Extra-Raum zeigt Intendant Kempchen eine Sammlung ausdrucksstarker Puppen aus mehreren Jahrhunderten, einen kompletten Wanderschauspiel-Wagen und zahlreiche nachgebaute Szenen. Im „Dritten Reich“ förderten die Nazis die Puppenspieler. „Ihnen ging es in der Zeit wirtschaftlich besser als je zuvor“, berichtet Kempchen. Widerstand habe es kaum gegeben. Die Zuschauer*innen sollten sich amüsieren und dabei nicht merken, dass ihnen die braune Ideologie vermittelt wird. In einem Schaukasten zeigt die Ausstellung Puppen, die wie die antisemitischen Karikaturen des Hetzblatts „Stürmer“ aussehen: hakennasige Juden. Die waren die Bösen, die man zum Schluss „auf offener Szene aufhängen“ sollte.

Später übernahm die DDR sowjetische Puppenspiel-Vorbilder unter anderem vom Moskauer Puppentheater. Dort wurde vor allem mit Stabpuppen gespielt.

Love Foundation auf dem SKET Gelände in Magdeburg
Industrieruinen auf dem Gelände des ehemaligen Schwermaschinenbaukombinats Ernst Thälmann (SKET) in Magdeburg: Räume der Kulturinitiative Love Foundation, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Weitere Spuren des untergegangenen ostdeutschen Staats finden sich weiter draußen im Süden der Stadt. Buckau, früher ungeliebtes Arbeiterviertel zwischen gigantischen Industrieanlagen, wurde zum gefragten Wohnviertel mit restaurierten Lofts und Fabrikantenvillen an der Elbe. Aus den Ruinen des „Schwermaschinenkombinats Ernst Thälmann“ SKET, einst einer der größten Industriebetriebe der DDR, entsteht auf mehr als 400.000 Quadratmetern ein Industrie- und Logistikpark mit eigener Stromversorgung aus einem Windrad.

Fahne der Love Foundation auf dem SKET Gelände in Magdeburg
Industrieruinen auf dem Gelände des ehemaligen Schwermaschinenbaukombinats Ernst Thälmann (SKET) in Magdeburg: Räume der Kulturinitiative Love Foundation / Former Industrial Estate SKET in Magdeburg: Rooms of Cltural Project Love Foundation, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Liebe in Ruinen

Zwischen den Ruinen des SKET hängt in einem hohlen Fenster eine bunte Fahne mit der Aufschrift „Love Foundation“. „Am liebsten machen wir Open-Air-Festivals“, erzählt Jule Zigann von der Stiftung der Liebe. Außerdem organisiert die Stiftung Konzerte, Kunst-Events, Jonglage-, Theater- und Upcycling-Workshops. Ein Teil der Einnahmen geht an das Hamburger Wasser-Projekt Viva con Agua. Die 27-jährige Ökologie-Ingenieurin schwärmt von den Projekten der weltweiten ehrenamtlichen Kunst- und Kulturinitiative.

Der Eigentümer des SKET-Geländes, Bernd Weiler, habe der Love Foundation einige Räume der Fabrikruinen kostenlos überlassen. „Die renovieren wir, um hier einen alternativen Club einzurichten.“ Im verlassenen Keller entsteht eine Bar und draußen bauen sie Pflanzkästen für Kräuter, Obst und Gemüse. Jule und ihre Mitstreiter*innen „lieben das Thema Permakultur und regenerative Wirtschaft.“

Love Foundation

In einem Graffiti-besprühten Raum zeigt Jule die Requisiten des letzten Festivals, dem jährlichen „Open Glacis“: aus Paletten und Abfallholz gebaute Sitzgelegenheiten, Dekopilze aus Restholz und bunt bemalten alten Schüsseln.

„Magdeburg hat so viel Grün und so viele Freiflächen“, freut sich Jule, die aus dem nahen Harz zum Studieren in die Landeshauptstadt gezogen ist. Die Stadt sei „voller Möglichkeiten“.

Apfel hängt am Baum vor der Grünen Zitadelle in Magdeburg
Hundertwasserhaus Grüne Zitadelle in Magdeburg, Castello / Green Citadel by Friedensreich Hundertwasser in Magdeburg, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Das bestätigen viele in Magdeburg, zum Beispiel der Kabarettist Lars Johansen. Vor Jahren hat die Stadt einen Bauernhof aus dem 19. Jahrhundert zum soziokulturellen Zentrum mit Bühne, Galerie und Büros umgebaut. Filmfan Johansen war für ein Bühnen-Engagement nach Magdeburg gekommen. Jetzt freut er sich über die drei Programmkinos im Moritzhof. Aufgewachsen in Hannover, kuratiert er als Vorsitzender des Vereins Artist e. V. Filmfestivals und organisiert mit anderen Künstler*innen die Lesebühne im Moritzhof.

Einfach machen

„Ich habe bei Lars mal erwähnt, dass ich Lust hätte, eine Lesebühne zu gründen“, ergänzt Autor Leonhard Schubert. Vier Monate später standen wir zusammen auf der Bühne. Er mag den „rotzigen, sehr, sehr ehrlichen Charme“ Magdeburgs, die „totale Ehrlichkeit“. Man müsse sich sehr anstrengen, um etwas einzustielen, aber es gebe in der Stadt „überall tolle Menschen, engagierte Talente und ein dankbares Publikum“. – Sogar für seltsame Elefanten, lachende und weinende Jungfrauen.

Magdeburg: SKET-Gelände
Industrieruinen auf dem Gelände des ehemaligen Schwermaschinenbaukombinats Ernst Thälmann (SKET) in Magdeburg / Former Industrial Estate SKET in Magdeburg, 30.8.2021, Foto: Robert B. Fishman

Info:

Internationales Kultur-Netzwerk Love Foundation

Zirkus-Museum

Technik-Museum (Dauerbaustelle mit Open End)

Grüne Zitadelle: Letzter Bau des österreichischen Baukünstlers Friedensreich Hundertwasser mit Café, Restaurant, Hotel und Läden mitten in der Innenstadt. Magisch.

Moritzhof: Soziokulturelles Zentrum mit 3 Kinos, Galerie, Kultur-Scheune und begrüntem Innenhof für Lesungen und Konzerte. . Der Moritzhof ist Mitglied im Netzwerk soziokultureller Stadtteil-Zentren Utopolis.

Puppentheater: professionelles Puppentheater mit mehreren Sälen, Café und einer umfangreichen Ausstellung mit Figuren aus der Antike über das „Dritte Reich“ und die DDR bis heute.

Architektur:

Anfang des 20. Jahrhunderts war Magdeburg ein Zentrum des „Neuen Bauens“. Die Bauhaus-Bewegung (ab 1919) und ihre Vorläufer wollte vor allem auch für Menschen mir geringen Einkommen helle, praktische, kostengünstige, gut belüftete Wohnungen im Grünen schaffen. Geblieben sind aus jener Zeit eine komplette Bauhaus-Siedlung (Hermann-Beims-Siedlung), Gartenstädte und zahlreiche Genossenschaftssiedlungen wie die quietschbunt gestrichenen Häuser in der Otto-Richter-Straße.

Café

Herzstück Kuchenatelier: Vintage-Café in modernem, instagrammablem Weiß und Türkis(bietet auch Backkurse an), Goethestr. 4,

Neuzeit: Wilde Mischung aus Bauhaus-Stil, Flohmarkt-Fund und handgefertigter Designlampe. Ob Indischer-Kaffee oder Americano, Kaffee-Arabisch oder Yogi-Tee, Einsteinstr 12 (nahe Hasselbachplatz)

Vegan

Verkehr:

Kaum eine Stadt dieser Größe (ca. 235.000 Einwohner*innen) hat ein so gut ausgebautes, dichtes Straßenbahnnetz.

und sonst so:

teilzeitreisender.de/magdeburg-mal-anders-besondere-tipps-fuer-eine-staedtetrip/

geheimtipp-sachsen-anhalt.de

Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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