Zuletzt aktualisiert am 21. Oktober 2020 um 14:43
Meine Reportage aus Rotterdam, gesendet in den „Zeitfragen“ Deutschlandfunk im Deutschlandfunk Kultur am 15.6.2020
Das niederländische Rotterdam richtet im Mai 2021 den European Song Contest ESC aus. Die zweitgrößte Stadt der Niederlande hat Platz, viel Platz – und viel Wasser. Seit Europas größter Hafen weiter die Maas hinunter Richtung Nordsee gezogen ist, stehen ungezählte Hafenbecken in der Stadt und viele Industriebauten leer. Hier siedeln sich findige Jungunternehmer an, die die Wirtschaft nachhaltiger machen wollen.
Das Ziel: geschlossene Material-Kreisläufe ohne Müll. Die Stadt will bis 2050 eine vollständig geschlossene Kreislaufwirtschaft etablieren. Der Abfall des einen wird zum Rohstoff des anderen. Blue Economy, die blaue Wirtschaft, heißt das Prinzip nach dem Cradle to Cradle-Modell des deutschen Wissenschaftlers Michael Braungart.
Im Gründerzentrum Blue City zum Beispiel tüfteln Start-Up Unternehmer und Unternehmerinnen in einem ehemaligen Schwimm- und Spaßbad an der Wirtschaft der Zukunft: Einer züchtet essbare Pilze auf den Kaffeesatz-Abfällen umliegender Cafés. Andere verarbeiten Obstabfälle zu Leder für Taschen und Schuhe, Hygienetücher aus dem Abwasser zu Folien für Gründächer oder Insekten zu leckeren Burgern. In einem der vielen ehemaligen Hafenbecken muhen Kühe. Der erste schwimmende Bauernhof Europas produziert Milch, Joghurt und Quark auf dem Wasser. Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen – oder nach Rotterdam, um sie zu verwirklichen.
Beitrag:
So klang das stillgelegte Schwimm- und Spaßbad Tropicana in Rotterdam vor dreieinhalb Jahren. Ein Investor hatte das heruntergekommene, leerstehende Objekt in bester Lage für 1,7 Millionen Euro gekauft. Inzwischen ist es renoviert. Verbaut wurde zu 90% Recycling-Material. Entstanden ist ein Inkubator, eine Brutstätte für die Wirtschaft der Zukunft – die Blue City. Den Umbau haben die Super Use Studios gemacht. Sie erfassen und sammeln auf Abbruch-Baustellen Baumaterial, das sie offline und übers Internet an andere Bauherren vermitteln.
Blue City: Rotterdam abfallfrei
Auf 12.000 Quadratmetern produzieren in der Blue City 30 junge Unternehmen Fleischersatz aus Insekten, essbare Algen, Leder aus Obst-Resten, Verpackungsfolien aus Brauereiabfällen und viele weitere Waren aus vermeintlichem Müll.
Ihr gemeinsames Ziel: eine Wirtschaft geschlossener Kreisläufe ohne Abfall – die Blue Economy nach den Ideen des deutschen Wissenschaftlers Michael Braungart.
…Die Blue Economy baut vor allem Netzwerke auf, die verschiedene Wirtschaftskreisläufe verbinden. ….. Die Idee zur Blue City hatten mein Partner Mark und ich. Wir haben dieses irrsinnige Gebäude, dieses leer stehende Schwimmbad, gesehen und festgestellt, dass es Raum für unsere Geschäftsidee bietet. … Dahinter stand die Idee, ein Ökosystem von Unternehmern zu gründen, die die Abfälle des jeweils anderen nutzen.
… erzählt Mit-Gründer Siemen Cox von den Anfängen. Sein Unternehmen Rotterschwamm züchtet essbare Pilze auf Kaffeesatz, den es bei Cafés und Restaurants einsammelt. Das Unternehmen steht inzwischen auch wirtschaftlich auf eigenen Beinen. Deshalb hat es die Blue City verlassen, um Platz für neue Gründer und Gründerinnen zu schaffen.
Leder aus Obstabfall
Fruit Leather zum Beispiel, Obstleder. Unter diesem Firmennamen fertigt Hugo de Boon Leder aus Obstabfällen.
Über den Rotterdamer Hafen kommen große Mengen an tropischen Früchten nach Europa. Teile der Ladung vernichten die Spediteure, weil sie unterwegs schlecht geworden ist.
Wir haben herausgefunden, dass 45% des angebauten Obstes weggeschmissen wird. Schon im Ursprungsland sind es 30%, die die hohen optischen Anforderungen des europäischen Marktes nicht erfüllen. Auf dem Transport sind es dann nochmal 10% der Erntemenge im Handel und beim Verbraucher 5%.
Ursprünglich wollten de Boon und sein Kollege Siebdruck-Tinte aus dem Saft weggeworfener Früchte herstellen. Zufällig hatten sie die Masse dafür auf dem Fensterbrett vergessen. Dort war sie zu einer lederähnlichen Substanz getrocknet. Dann haben die beiden überlegt, was man noch daraus machen könnte.
Das Rezept halten wir geheim. Wir nehmen die Kerne aus den Mangos heraus, schreddern sie zu einem Smoothie. Diesen Brei ergänzen wir mit natürlichen Zusätzen, streichen ihn auf Glasplatten und lassen die Paste trocknen. Eine weitere Firma färbt die Substanz und beschichtet sie mit wasserabweisendem Material.
De Boon stellt seine Produkte im Flur der Blue City aus: Schuhe, Taschen, Sitzbezüge – alles, was man aus Leder herstellen kann. Die Blue City ist für ihn der richtige Standort.
… Ein Beispiel: Wir filtern für die Lederherstellung viel Mangosaft heraus. Unser Nachbar, eine Brauerei, will daraus Mango-Bier brauen. So wird unser Abfall zum Rohstoff für ein anderes Unternehmen. Wir helfen uns gegenseitig.
… und Rotterdam ist der perfekte Standort für die Unternehmen der Blue City.
Seit Europas größter Hafen die Neue Maas hinunter Richtung Nordsee gezogen ist, stehen zahlreiche Industriebauten und ehemalige Hafenbecken leer. Die Stadt hat Platz. Bis 2050 will Rotterdam abfallfrei werden. Die ganze Stadt soll eine Blue City werden.
Goldene Müllwagen
Joost van Maaren ist einer von 25 Beschäftigten der Stadt, die daran arbeiten:
Einige unserer Müllautos haben wir goldfarben angestrichen. Damit sagen wir allen, dass wir wertvolle Rohstoffe einsammeln. Unsere Recyclinghöfe nennen wir Goldminen. Gemeinsam mit den Bürgern haben wir Plastik aus den Hafenbecken gefischt und daraus ein Boot gebaut. Das nutzen jetzt Schulklassen und Firmen für Teambuilding-Programme. Sie fahren damit zum Beispiel raus, um gemeinsam noch mehr Plastik-Müll aus dem Wasser zu holen. So bringen wir das Thema an die Leute und tun etwas. Dafür ist Rotterdam berühmt.
Die Stadt habe ihre Recyclingquote schon von 17 auf 40 % gesteigert, sagt van Maaren – und da geht noch mehr.
Resiliente Stadt
Wir haben hier viele kleine Unternehmen, die in der Kreislaufwirtschaft Neues ausprobieren. … Wir helfen ihnen zum Beispiel bei der Suche nach Investoren. Wir unterstützen diese Gründer, in dem wir bei ihnen einkaufen. Unsere Müllcontainer werden aus Recyclingmaterial hergestellt und so gebaut, dass man defekte Einzelteile austauschen kann, statt neue zu kaufen.
Rotterdam hat sich dem Netzwerk „Resilient Cities“ angeschlossen – „resiliente Städte“, die dem Klimawandel entgegen wirken wollen und sich auf die Folgen der Erderwärmung vorbereiten. Die Stadt liegt unter dem Meeresspiegel.
Gemüse vom Dach
Die insgesamt 18 Quadratkilometer Flachdächer sollen nach und nach begrünt werden, damit sie die Luft kühlen und Regenwasser speichern.
Strom soll möglichst aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen werden, aus Sonne, Wind – oder aus dem Boden.
Wir sind hier im Park of Tomorrow, dem Park von Morgen. Hier produzieren lebende Pflanzen Strom für Lichter im Park. Es ist ein interaktives System. Wenn Du über den Steg hier gehst, gehen die Lichter an.
Licht aus dem Boden
Marjolein Helder hat nach ihrem Abschluss an der Uni Wageningen (sprich Waacheningen) eine Firma gegründet, die Bio-Batterien herstellt und vertreibt: Planet E.
Pflanzen produzieren Biomasse durch Photosynthese. Dabei scheiden sie organisches Material aus, das Bakterien im Boden zersetzen. Dabei werden Elektronen frei. Wir haben eine biologische Batterie gebaut, die diese Elektronen nutzt, um Strom zu produzieren.
Genaueres will die Unternehmensgründerin nicht verraten. – Es funktioniert. Geht man über den Holzsteg in einem Rotterdamer Park, fangen die LED Lämpchen am Wegesrand an zu funzeln. Fürs Fußballstadion reicht es nicht, aber man sieht im Dunkeln zumindest, wo man hintritt.
Im Dunkeln folgen magische Lichter Deinem Weg, wie Glühwürmchen, Magisch.
schwärmt Ermi van Oers, die den Parkweg als Designerin gestaltet hat.
Nun wollen die beiden ihr Living Light an Städte, Gemeinden und private Gartenbesitzer verkaufen. Vor allem da, wo es keinen Stromanschluss gibt, könnte die Rechnung aufgehen. Licht aus dem Boden.
Für Rotterdam scheint keine Idee zu verrückt.