Zuletzt aktualisiert am 4. August 2017 um 20:05
Sidi M’tir, Dorfleben am Bahnhof
Sidi Mtir, Tunesien im November 2011, Farben lassen sich doch steigern. Das Blau des Himmels und das weiß der Häuser leuchten im klaren Herbstlicht so kräftig, als hätten sie zum Opferfest den besten Festtagsschmuck angelegt. Das Land ruht, alle Läden und Cafés sind geschlossen. Die Menschen schlachten Schafe und grillen das Fleisch in den Innenhöfen ihrer Häuser. Familien aus dem ganzen Land kommen zusammen: eine geschlossene Welt für Fremde.
Unser Glück hat einen Namen: José, ein Deutscher der hier für die giz (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, früher gtz) und die tunesische Regierung angehende Hotelfachleute ausbildet und Berufsbildungsprogramme entwickelt. Ich habe ihn über die giz in Deutschland gefunden. Gestern hat er mir die Medina (Altstadt) in Hammamet gezeigt und viel über den Alltag hier erzählt. Wir haben Ideen für ein Begegnungsprogramm geschmiedet und schließlich hat er uns eine Einladung zu seinen tunesischen Freunden vermittelt: Meine 8 Workshopteilenehmer fallen – verteilt auf 2 Autos, seines und ein uraltes, gelbes Taxi – in einem winzigen tunesischen Dorf ein. Die Familie hat ihr noch nicht ganz fertig gebautes Wohnzimmer für uns geräumt, in einer Ecke Sitzkissen und eine Decke am Boden ausgebreitet und aufgetischt: Frisch gegrilltes Schaffleisch (verwertet wird hier alles), gegrillte, zu einer groben, scharfen Paste verarbeitete Paprikas mit Harissa und anderen Gewürzen, selbstgemachte Pommes, Obst, Salat und viele weitere Leckereien. Geschlemmt wird mit den Händen.
Die Familie führt uns später auf die Dachterrasse, eine Baustelle. Wenn die Kinder groß werden, baut man einfach ein weiteres Stockwerk aufs Dach. So wachsen die Häuser mit und sparen Steuern. Die müssen die Tunesier erst bezahlen, wenn das Haus sein endgültiges Dach bekommt und damit als fertig gestellt gilt.
Wer hat Angst vor dem bösen „Islamisten“?
„Wir wünschen allen Tunesiern ein schönes Fest, danken denen, die die Revolution gemacht haben und wünschen ihnen und uns, dass ihre Errungenschaften erhalten bleiben“, übersetzt Muhammed eine der Karten, die überall im Haus herumliegen. Ein Logo mit einem roten Stern und einer stilisierten Friedenstaube ziert die Karten und die Aufkleber, mit denen Muhammed seinen uralten schwarzen Benz, Baujahr 1982 und sogar die Felle der geschlachteten Schafe dekoriert hat. Das Bekenntnis einer ganzen Großfamilie zu En Nahda, der „Wiedergeburt“ dieses von mehr als 50 Jahren Diktatur entwürdigten und entrechteten Landes. Mit 42 Prozent ist die islamische Partei als stärkste aus den ersten freien Wahlen hervorgegangen. Um die Freiheit der Menschen macht sich Lazhar keine Sorgen. Wie Parteichef Ganouchi verspricht er, dass Frauen auch in Zukunft weder Kopftuch noch Schleier tragen müssen und weiterhin ihren Berufen nachgehen würden. Touristen blieben willkommen, dürften in Ruhe ihr Bier trinken. Auch mit den Juden hätte er keine Probleme. „Auf Djerba bringen ihnen die muslimischen Nachbarn frisch geschlachtetes Fleisch vorbei und umgekehrt genauso“, versichert der 29jährige, der nach seiner Promotion in Chemie wenigstens eine halbe Assistenten-Stelle an der Uni in Monastir ergattert hat. Von den 510 Dinar (rund 250 Euro) Monatsgehalt zahlt er 160 für die fast 100 km weite Reise zur Arbeit. Die Zutaten für seine Experimente müsse er von seinem Gehalt auch selbst kaufen, weil der Rektor seinen schon vor der Revolution gestellten Einkaufsantrag immer noch nicht beantwortet habe.
Aus einem Nachbardorf berichtet ein Wahlbeobachter, dass viele erst in der Schlange vor dem Wahllokal entschieden hätten, wem sie ihre Stimme geben. En Nahda Leute hätten dort noch auf die Leute eingeredet und sie für die „richtige Sache“ überzeugt. Und wenn alle die Religiösen wählen, kann es so falsch nicht sein.
Lazhars Onkel Muhammed trägt den En Nahda – Aufkleber auch auf der Baseballmütze, die mit seinem runden Kopf verwachsen zu sein scheint. Für ihn sind „alle arabischen Präsidenten Diebe, Assad in Syrien, Mubarak und alle anderen auch.“ Die von der En Nahda seien anders, „weil sie an Gott glauben.“ Insh’Allah.