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Ein NesT für Geflüchtete

Meine Reportage im Länderreport des Deutschlandfunks:

von Robert B. Fishman

Paderborn. Für ihre lebensgefährliche Reise nach Deutschland bezahlen viele  Geflüchtete das ganze Vermögen ihrer Familien. Doch es gibt auch einen sicheren und legalen Weg: das NesT-Programm der Bundesregierung und des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen UNHCR. Die so Aufgenommenen dürfen sofort arbeiten. Doch die Hürden sind hoch.

Samstagvormittag auf einem Fußballplatz am Stadtrand von Paderborn: Kinder in grünen und schwarzen Trikots versuchen mehr oder weniger geschickt, den Ball ins gegnerische Tor zu befördern. Am Spielfeldrand feuern die Trainer ihre Mannschaften an.

Verani Kartum lässt sich vom Spielstand nicht beirren. Für seine Schützlinge steht es ungefähr 0:10. Er zählt schon nicht mehr mit. Doch die jungen Kicker geben nicht auf, kämpfen bis zum Schlusspfiff.

Kartum ist der Vorsitzende des Sportvereins SC Aleviten Paderborn. Gegründet hat er den Verein, um Geflüchteten und anderen Zuwanderern beim Ankommen in Deutschland zu helfen.

Als Zuwanderer etwas zurückgeben

Als Siebenjähriger kam Kartum 1977 aus der Türkei nach Deutschland – ohne ein Wort Deutsch. Da er hier gut aufgenommen wurde und schnell deutsche Freunde gefunden hat, möchte er nun etwas zurückgeben. Der pensionierte Justizvollzugsbeamte engagiert sich komplett ehrenamtlich für Geflüchtete. Das Vertrauen und die Offenheit der Flüchtlinge bedeuten ihm mehr als Geld. Der 54-Jährige lebt mit seiner Familie von einer bescheidenen Rente.

Anfang 2021 erhielt der SC Aleviten ein Schreiben der Bundesregierung. Der Brief ging an zahlreiche Sportvereine: Man suche für das Programm „Neustart im Team“, kurz NesT, Mentorengruppen, die Geflüchtete unterbringen und im ersten Jahr in Deutschland ehrenamtlich begleiten. „Das war für uns keine Frage“, erinnert sich Kartum. Dem Vereinsvorsitzenden ist es wichtig „damit zu zeigen, dass es sichere, legale Wege nach Deutschland gibt“.

Im Club fand er schnell die fünf Mentoren, die man damals zum Mitmachen brauchte.

So funktioniert das NesT-Programm

Eine ehrenamtliche Mentorengruppe aus jetzt mindestens vier Personen verpflichtet sich, eine Flüchtlingsgruppe ein Jahr lang ehrenamtlich zu unterstützen. Dann dürfen die Geflüchteten einreisen, sofort arbeiten und erhalten Anspruch auf Bürgergeld.

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen UNHCR wählt die Flüchtlinge aus einem Pool von Menschen aus, die dringend Schutz benötigen. Das sind hauptsächlich Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern, die keine Chance auf Rückkehr in ihre Heimat haben. Auch im Aufnahmeland dürfen sie nicht auf Dauer bleiben.

Rund 200 Geflüchtete könnten jedes Jahr über das Umsiedlungsprogramm nach Deutschland kommen. Seit dem Start von NesT 2019 waren es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis August 2023 nur 152 Personen.

Das Problem: Die Umsiedler dürfen erst einreisen, wenn die Helfer eine Wohnung für sie gefunden und die Miete für ein Jahr bezahlt haben. Vor allem deshalb finden sich zu wenig Mentorinnen und Mentoren.

Verani Kartum hat es trotzdem geschafft. Er rief zahlreiche Vermieter an, die ein Angebot inseriert hatten. „Wenn man gesagt hat, die Wohnung ist für eine Flüchtlingsfamilie, dann war es vorbei.“ Man habe gleich aufgelegt oder ihm gesagt, er solle später wieder anrufen. Schließlich trat der SC Aleviten selbst als Mieter auf und erhielt einen Vertrag.

„Die mussten wie Neugeborene alles lernen“

Vor zwei Jahren war es dann so weit. Zu Weihnachten 2021 holten Kartum und die anderen Mentoren „ihre“ Flüchtlingsfamilie aus dem Durchgangslager Friedland bei Göttingen ab: eine Mutter aus einem Flüchtlingslager in Kenia mit ihren vier Kindern. Die Familie stammt aus Somalia. Von dort war sie vor dem Bürgerkrieg nach Kenia geflohen. Deutsch sprach niemand von ihnen, zwei der vier Kinder nur etwas Englisch.

„Sie müssen wie Neugeborene alles lernen“, erinnert sich Verani Kartum. Sie kannten weder Toilette noch Kühlschrank oder Küchengeräte. Dafür sind die fünf Neu-Paderborner schon weit gekommen.

Abdullahi, der älteste Sohn der Familie, trainiert zweimal die Woche die Kinder-Mannschaft des SC Aleviten. Jetzt steht er mit Verani Kartum am Spielfeldrand und bangt mit seiner Mannschaft.

Die Kinder mögen ihn. „Ein guter Trainer. Er hilft uns sehr“, lobt ein Junge, der  – noch etwas atemlos – mit seiner Mannschaft vom Platz kommt. 13 zu 0 haben sie verloren. Die Stimmung: trotzdem gut.

Nachwuchs für die Pflege

Abdullahi ist inzwischen 21, sein Deutsch noch sehr holprig. Er möchte Altenpfleger werden.

Auf die Idee hat ihn ein Kurs des Bildungswerks „In Via“ in Paderborn gebracht. Dort lernt er zusammen mit seiner Schwester Faduma und 14 weiteren Zuwanderern aus Afrika, Asien und der Ukraine nicht nur Deutsch: Der Kurs bietet auch eine Einführung in die Pflegeberufe. Das Entscheidende: die Kombination aus beidem.

„Wir zeigen mit einem niedrigschwelligen Angebot, wie Pflege in Deutschland verstanden wird“, erklärt Lehrer Siegfried Besser. Auf dem Programm stehen Deutschunterricht, etwas Theorie, praktische Übungen und Besuche in Pflegeeinrichtungen. Der erfahrene Pfleger und Ausbilder musste selbst umdenken. „Für die meisten Teilnehmer*innen dieses Kurses war es bisher unvorstellbar, fremde Menschen zu pflegen“, sagt Besser. In ihren Herkunftsländern übernehmen das die Familien.

In einem Rollenspiel übt Abdullahi mit einem weiteren afrikanischen Kursteilnehmer, wie man Patienten wäscht. Die Bewegungen wirken noch unsicher. „Sagen Sie dem Patienten vorher, was Sie jetzt machen“. Immer wieder erinnert Lehrer Siegfried Besser die beiden daran, Kontakt mit den zu Pflegenden aufzunehmen. Diese sollten wissen, was auf sie zukommt. Und: „Fragen Sie vorher, ob der Patient einverstanden ist.“ So schaffe der Pfleger Vertrauen und Sicherheit. Abdullahi hält seinem Kollegen den Arm hin. Ein Stück Stoff dient den beiden als Waschlappen. Das Wasser dazu stellen sie sich vor.

Anschließend wertet die Klasse die Übung aus. Die Teilnehmer*innen besprechen, was gut gelaufen ist und was noch besser funktionieren könnte.

Arbeiten und Geld verdienen stärkt das Selbstbewusstsein

Verani Kartum hat Abdullahi und seiner Schwester Faduma geraten, den Kurs zu machen. Dennoch lehrt ihn seine Erfahrung mit vielen Geflüchteten: Nur Deutsch lernen und Kurse besuchen reicht nicht, um die Neuankömmlinge zu integrieren. Kartum meint, die Geflüchteten sollten nach einem ersten Deutschkurs schnell arbeiten dürfen. Im Arbeitsalltag üben sie die Sprache und lernen Einheimische kennen. Für das Selbstbewusstsein der Neuankömmlinge sei es wichtig, eigenes Geld zu verdienen.

Jobs gebe es genug. Verani Kartum kenne zahlreiche Unternehmen, die auch Ungelernte mit schlechten Deutschkenntnissen gerne einstellten. Auch der Inhaber einer Zeitarbeitsfirma in seinem Bekanntenkreis suche dringend Hilfskräfte.

Auch Abdullahi möchte nach dem Kurs möglichst schnell eigenes Geld verdienen, ebenso seine Mutter, die eine Vollzeitstelle annehmen will, obwohl sie kaum Deutsch spricht.

Den Mentorinnen und Mentoren, die Geflüchtete aus dem NesT-Programm begleiten möchten, rät Kartum vor allem zu Geduld. Mit Enttäuschungen müsse man rechnen. Das liege an der umständlichen und langsamen deutschen Bürokratie, oft aber auch an den Geflüchteten selbst: Viele Geflüchtete müssten erst lernen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. „In den Lagern waren sie über viele Jahre zur Unselbstständigkeit verdammt“, weiß Verani Kartum aus vielen Gesprächen mit Flüchtlingen. „Hier gewöhnen sie sich schnell daran, dass die Ehrenamtlichen ihnen viel abnehmen, z. B. die mühsame Arbeit mit der Bürokratie, die die Zuwanderer überfordert.

Trotzdem sieht der Vereinsvorsitzende  die positiven Seiten seines Engagements: das Vertrauen und die Dankbarkeit seiner Schützlinge ebenso wie deren Engagement beim SC Aleviten. Abdullahi und seine Geschwister spielen alle in den Mannschaften des Vereins und helfen bei Veranstaltungen. Seine Mutter kocht.

Mit seiner Begeisterung hat Verani Kartum trotz aller Widrigkeiten andere angesteckt. Im Umfeld der Caritas hat sich in Paderborn eine weitere Mentorengruppe gefunden. Die hat Ende Oktober ein Flüchtlingspaar aus Syrien aufgenommen.

Info:

In Sommer 2023 hat das Forschungszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge eine wissenschaftliche Auswertung des NesT-Programms veröffentlicht. Fazit: Es funktioniert, vor allem dank sehr engagierter Mentorengruppen. Viele können allerdings die Miete für die Geflüchteten nicht bezahlen. Daher schlagen die Autor*innen des Forschungsberichts vor, einen bundesweiten Fonds aufzulegen. Dieser können die Miete für die Neuankömmlinge übernehmen. Auch dauere es noch zu lange, bis die Geflüchteten nach einer Zusage nach Deutschland einreisen dürfen. Und: Anfangs wären auch Dolmetscher eine große Hilfe.

Städte und Gemeinden sollten für das NesT-Programm werben. Dann würden sich auch mehr Mentoren finden und es könnten weitere Flüchtlinge über das Programm legal einreisen. Deutschland braucht junge, motivierte Arbeitskräfte – zum Beispiel in der Pflege.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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