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Gemeinwohlökonomie: Die Wirtschaft vom Kopf auf die Füße stellen

Gemeinwohlökonomie: Der Landkreis Höxter wird Deutschlands erste Gemeinwohlökonomie-Region. Kommunen und Unternehmen erstellen erfolgreich Gemeinwohlbilanzen.

Zuletzt aktualisiert am 14. Januar 2024 um 8:44

 

von Robert B. Fishman

Klimakatastrophe, Artensterben, Naturzerstörung – Unser Wirtschaftssystem überfordert den Planeten. Der Welterschöpfungstag, an dem die Menschheit mehr Ressourcen verbraucht hat, als die Erde im selben Jahr „nachliefern“ kann, rückt immer weiter vor. 2019 war es der 29. Juli, auf Deutschland herunter gerechnet der 3. Mai. Würden alle so leben wir wir, bräuchte die Menschheit dreieinhalb Planeten. Problem: Wir haben nur den einen. 

Der politisch tiefschwarze Kreis Höxter in Ostwestfalen wird Deutschlands erste Gemeinwohlökonomie-Region. Meine Reportage im Länderreport des Deutschlandfunks:

Das  Weltwirtschaftsforum WEF in Davos erkennt die Umweltzerstörung seit 2020 als größte Bedrohung der Weltwirtschaft. In seinem aktuellen Risikobericht nennt das WEF Extremwetter, Artensterben, ein mögliches Scheitern der Klimapolitik und den absehbaren Zusammenbruch von Ökosystemen als größte Gefahren für die Wirtschaft. Den Wert von Waren und Dienstleistungen, die die Welt auf Grundlage gesunder Ökosysteme produziert, beziffert das WEF auf jährlich 33 Billionen US-Dollar. Das entspricht der Wirtschaftsleistung der USA und Chinas zusammen.

Geld und Gewinnmaximierung sind zum Selbstzweck verkommen

Nicht nur unsere Lebensgrundlagen leiden unter den Bedingungen, auch die Menschen: Burn-Out, Armut, Hungerlöhne – etwa in asiatischen Billigfabriken, die auch schon mal mit den darin eingesperrten Arbeiterinnen abbrennen, damit wir noch billigere Klamotten kaufen können. Um die Folgen unseres Wirtschaftssystems zu veranschaulichen, stellt sich Christian Felber schon mal auf den Kopf – und wieder zurück auf die Füße.

Die Preise unserer Produkte lügen

Dort hin will der Österreicher auch die Wirtschaft zurück holen. „Geld“, sagt der Wirtschaftstheoretiker, sei „vom Mittel zum Zweck immer mehr zum Selbstzweck“ geworden. Unternehmen gelten als erfolgreich, wenn sie ihre Gewinn ohne Rücksicht auf Verluste steigern. Diese „externalisieren“ die meisten Betriebe: Kosten für Wasserverbrauch, Luftverschmutzung, Bienensterben, Artenschwund, Unfallopfer oder die Folgekosten der Erderwärmung wie Dürren, Überschwemmungen oder Deiche gegen steigende Meeresspiegel tauchen in keiner Unternehmensbilanz auf. Die Rechnung geht an die Allgemeinheit und die nachfolgenden Generationen. Wir leben auf Pump.

„Diejenigen, die verantwortlich wirtschaften haben Wettbewerbsnachteile und diejenigen, die unserer Gesellschaft und Umwelt schaden haben Preis- und Wettbewerbs-Vorteile. Das ist pervers.“ Christian Felber

Um das zu ändern haben Felber und einige  Mitstreiter*innen die Gemeinwohlökonomie entwickelt. Schon mehr als 600 Unternehmen, Städte und Gemeinden haben sich dazu bisher von unabhängigen Auditoren nach 20 Gemeinwohlkriterien untersuchen und bewerten lassen.

Gemeinwohlökonomie: Nachhaltigkeit, Menschenwürde, Gerechtigkeit

Maßstab sind die Achtung der Menschenwürde, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz. Die Auditoren prüfen, ob das Unternehmen oder die Gemeinde diese vier Grundwerte in ihren Beziehungen zu Mitarbeiter*innen, Lieferanten, Kund*innen, Nachbarn und Konkurrenten einhalten.

Punkte gibt es zum Beispiel für Mitarbeiterbeteiligung, sparsamen Einsatz von Rohstoffen, umweltfreundliche Mobilität, veganes Essen aus regionalen Zutaten in der Kantine, Spenden an gemeinnützige Organisationen, Solaranlagen auf dem Dach, langlebige, reparierbare Produkte, Verträge mit Ökostrom-Anbietern oder eine geringe Lohnspreizung. Das Ziel: Der oder die Bestbezahlte – also meist der Chef oder die Chefin –  soll höchsten fünf Mal so viel Gehalt bekommen wie der oder diejenige mit dem geringsten Lohn. Bewertet werden außerdem die Lieferketten, die Verteilung der Gewinne, regionale Wirtschaftskreisläufe und das Finanzwesen. Wer sein Geld bei einer nachhaltig arbeitenden Bank wie der Ethikbank, GLS oder Triodos anlegt, steht in der Gemeinwohlbilanz besser da.

Meine Geschichte zum Lesen findest Du / finden Sie  hier

Info:

Inzwischen unterstützen mehr als 2000 Unternehmen, Städte und Gemeinden die Gemeinwohlökonomie. Mehr als 600 haben schon eine oder mehrere Gemeinwohlbilanzen erstellt, zum Beispiel:

die Sparda-Bank München,

der Outdoorkleidungshersteller VauDe,

der Detmolder Natur-Duftstoff-Hersteller Taoasis, der in der Region eigenen Bio-Lavendel anbaut und verarbeitet,

mehrere Hotels und Tagungshäuser des Verbunds Green Pearls 

die Tageszeitung taz,

die Bio-Bäckerei Märkisches Landbrot,

der Bäderbetrieb der Stadtwerke München,

der Tiefkühlkosthersteller Ökofrost,

die Werbeagentur Werk Zwei in Bielefeld,

mehrere Betriebe des Landes Baden-Württemberg (dort steht die Gemeinwohlökonomie als Ziel im Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung) die Zahnarztpraxis Mattias Eigenbrodt in Berlin, mehrere Gemeinden in Österreich

Das Verfahren:

1. Die Unternehmen erstellen eine Selbsteinschätzung nach der Bewertungsmatrix der Gemeinwohlökonomie.

2. Dann beantragen sie die Bilanzierung beim Dachverband ecogood.org

3. Anschließend durchlaufen sie das Audit und bekommen ein Testat über ihre Punktzahl. Zusätzlich haben sie die Möglichkeit, sich von Partnerunternehmen bewerten zu lassen (Peergroup-Audit)

Kosten für eine Bilanzierung: je nach Unternehmensgröße zwischen 5.000 und 20.000 Euro

weitere Infos:

Über die Gemeinwohlökonomie in Brakels Nachbarstädtchen Steinheim berichte ich hier.

ecogood

Stiftung Gemeinwohlökonomie

Gemeinwohlregion Kreis Höxter:

Wirtschaftsförderung Kreis Höxter: gfwhoexter.de

Den Beitrag deutscher Organisationen und Unternehmen zum Gemeinwohl hat der Gemeinwohlatlas nach den Kriterien „Aufgabenerfüllung, Zusammenhalt, Lebensqualität und Moral“ untersucht. Platz 1 ging 2019 an die Feuerwehren, Platz 2 ans Technische Hilfswerk THW.

Durchblick bei den vielen Produkt- und Unternehmenslabels in Deutschland verschafft die Seite labels-online.de

 

Von Robert B Fishman

freier Journalist, Autor (Hörfunk und Print), Fotograf, Moderator, Reiseleiter und mehr

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