von Robert B. Fishman
München. Kaum wollen Städte den Autoverkehr in ihren Zentren verringern, protestieren Anwohner*innen und Einzelhändler*innen. Sie fürchten um die Parkplätze vor der Haustür, haben Angst vor Mieterhöhungen und dass die Kunden nicht mehr kommen. Halten die Städte Kurs, beruhigt sich die Volksseele meist wieder. In vielen Geschäften steigen sogar die Umsätze, wenn die Autos vor der Ladentür verschwinden oder weniger werden. Allerdings sollten die Kommunen bei der Planung dazu einiges beachten. Die Stadt München hat die kleine Weißenburger Straße im Stadtteil Haidhausen für ein Jahr versuchsweise zur Fußgängerzone gemacht. Jetzt fragt sie die Anwohner nach ihrer Meinung.
Meine Radioreportage aus der Weissenburger Straße in München in den Systemfragen des Deutschlandfunks:
Trixi Obermeier führt eine kleine Modeboutique an der Weißenburger Straße im innenstadtnahen Münchner Stadtteil Haidhausen – früher ein kleine Leute Viertel, heute weitgehend gentrifiziert: hohe Mieten in schick restaurierten Gründerzeit-Altbauten. Dennoch haben sich einige kleine inhabergeführte Geschäfte gehalten. Manche sind seit Generationen da.
Händlerin Obermeier will nicht, dass die Stadt die Straße vor ihrem Laden zur Fußgängerzone macht. „Geldverschwendung“, schimpft sie. Viele Kundinnen kämen nicht mehr und auf der Straße sei auch viel weniger los. „Da ist ja kein Mensch unterwegs“, schimpft die rundliche Dame zwischen bunten Blusen, die eher eine ältere Kundschaft ansprechen. Ihre Freundin und Kundin stimmt ihr zu: „Die Fußgängerzone sei unnütz. „Wir haben viele Kinderspielplätze in der Stadt. Brauchen wir die jetzt auch noch? Haben wir dafür Geld, dass wir Straßen zu Spielplätzen machen?“. Die Stadt, sagt sie, sei doch „eh pleite“. Tatsächlich sind die goldenen Zeiten auch in München vorbei. Die Einnahmen sinken und die Kosten steigen.
Erst schimpfen, dann schau mer mal
Wenn Städte Straßen zu Fußgängerzonen machen, jammern die Besitzer der anliegenden Geschäfte. Das war schon in den 60er und 70er Jahren so, als Städte und Gemeinden die ersten autofreien Zonen in ihren Innenstädten ausweisen wollten. Heute zählen die Fußgängerzonen der Großstädte wie die Kaufinger und die Theatiner Straße in München oder die Mönkebergstraße in Hamburg zu den teuersten und meistfrequentierten 1A-Lagen. Die Mieten dort können sich nur Luxusgeschäfte und große Handelsketten leisten.
„Jede Veränderung, die wir im öffentlichen Raum vornehmen, führt zu brutalen Emotionen in alle Richtungen.“ Das hat Georg Dunkel immer wieder erlebt. Als Mobilitätsreferent der Landeshauptstadt München verantwortet er die Umsetzung der Münchner Verkehrspolitik.Mobilität in München
„Wenn Leute das Gefühl haben, sie werden vor vollendete Tatsachen gestellt, reagieren sie mit Abwehr“, erklärt der parteilose Referent. Entscheidend ist für ihn deshalb die Kommunikation mit den Anliegern. Eigentlich sollte man, so Dunkel, schon während der Planung von Tür zu Tür gehen, mit den Ladeninhabern die Pläne besprechen und Einwände ernst nehmen. Das erhöhe den Aufwand, aber man spart auch Zeit und Ressourcen, wenn „der Prozess dann dafür mit weniger Emotionen vonstatten geht“.
In der Weißenburger Straße hatte die Stadt in Bürgerversammlungen und im Stadtteil-Parlament über die Verkehrsberuhigungspläne informiert. Damit hat sie jedoch längst nicht alle erreicht.

Auch in den Verwaltungen gibt es noch eine Menge zu tun. Verkehrsplanung sieht Georg Dunkel als interdisziplinäre Gemeinschaftsaufgabe. Bisher jedoch arbeiten die unterschiedlichen Fachleute in den verschiedenen städtischen Referaten (Dezernaten) noch zu oft nebeneinander her. „Da müssen wir“, gibt er zu, „uns noch besser aufstellen“.

Wenn das nicht klappt, kann es teuer werden: In der Kolumbusstraße, einer ruhigen Wohnstraße, musste die Stadt einen ähnlichen Verkehrsversuch vorzeitig abbrechen, nachdem ein Anwohner dagegen geklagt hatte. Er wollte seinen Parkplatz in der Nähe der Haustür wieder haben. Inzwischen sind die Hochbeete, Pflanzkästen und der Spielplatz dort wieder abgebaut. Es sieht wieder aus wie vor der Verkehrsberuhigung: Autos am Straßenrand und auf der Fahrbahn.

In der Münchner Innenstadt wurde die Sendlinger Straße 2017-19 zur Fußgängerzone umgebaut. Auch dagegen protestierten Anwohner und Ladenbesitzer. Inzwischen sind die meisten mit der autofreien Straße zufrieden. Eine Untersuchung der Universität habe ergeben, dass „eine deutliche Mehrheit solche Veränderungen befürwortet“, berichtet Mobilitätsreferent Dunkel. Der Umbau habe „nachweislich die Fußgängerfrequenz und die Umsätze der anliegenden Geschäfte erhöht“, sorge aber auch für steigende Mieten, die kleinere Geschäfte oft nicht mehr erwirtschaften können.
Zu wenig Platz für Autos
München wächst. Vor 50 Jahren zählte die bayerische Hauptstadt eine Million Einwohner, aktuell fast 1,6 Millionen. Schon jetzt wohnen hier 4.861 Menschen auf einem Quadratkilometer, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. In Hamburg sind es nur gut halb so viele (2.530). Die Münchner Straßen sind enger als in anderen Großstädten. Für dichten Autoverkehr sind sie nicht gebaut.
Auf den schmalen Rad- und Fußwegen drängen sich immer mehr Radler und Fußgänger. Autofahrende verbringen zunehmend mehr Zeit damit, einen Parkplatz zu finden – ein Problem vor allem für Lieferfahrer, Handwerker und Pflegedienste sowie deren Kunden. Die Stadt richtet ihnen deshalb sogenannte 3 L-Zonen ein: Laden, Liefern, Leisten – Parkflächen für Lieferanten und Handwerker im Einsatz.
Dazu will die Stadt ein neues Netz von Miet-Fahrrädern und Carsharing-Autos aufbauen. Für diese und die zahlreichen E-Roller gibt es immer mehr eigene Abstellflächen. Dafür fallen Parkplätze für die Anwohner weg. Das Ziel formuliert Mobilitätsreferent Dunkel so: „Wenn es uns gelingt, die Anzahl der zugelassenen PKW nicht mehr weiter zu steigern, im Idealfall zurückzufahren, dann bekommen wir das Problem gelöst.“
In der Weißenburger Straße hat die Stadt einen provisorischen Radweg angelegt und Blumenkästen aufgestellt. Von 22 Uhr 30 bis zum Folgetag 12 Uhr 45 dürfen Lieferanten mit dem Auto in die Fußgängerzone fahren, danach nur noch Fahrräder und E-Roller auf der dafür markierten Fläche.
Zufriedene Ladeninhaberinnen
„Unser Capuccino-Verkauf hat sich verdreifacht, seit hier die Fußgängerzone ist“, freut sich Melanie Ottens. Sie leitet in der Weißenburger Straße die Filiale einer italienischen Feinkost- und Kaffeehauskette. Die Geschäftsfrau um die 40 beobachtet, wie die Passanten in den letzten Monaten mit mehr Ruhe durch die Straße schlendern und „sich auch mal die Zeit nehmen, in den Laden zu kommen. Die Fußgängerzone entschleunigt.“ Gut nicht nur für ihr Geschäft und ihre Seele.

Auch Anwohner Florian fühlt sich an der verkehrsberuhigten Straße wohl. Er empfiehlt, nach Daten statt nach „gefühlten Wahrheiten“ zu entscheiden. Bevor der Autoverkehr hier leiser geworden ist, hätten Jugendliche auch an der Straße gefeiert und schon mal eine Flasche auf den Boden geworfen. Das sei jedoch – im Gegensatz zu jetzt – im Verkehrslärm untergegangen. Heute beschweren sich die Anwohner über den Lärm der Feiernden, den sie früher nicht gehört hätten. Florian, ein intellektueller Typ um die 50 ist aus dem Münchner Umland hier her gezogen. Er stellt gerne grundsätzlichere Fragen. Welchen Sinn hat es noch, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren? Statt sich nur zu beschweren, könnten sich die Händler doch etwas einfallen lassen: zum Beispiel einen Dienst, der den Kunden die gekaufte Ware zum Parkplatz jenseits der Fußgängerzone bringt. Tatsächlich steht am Straßenrand ein Lastenrad mit der Aufschrift „Wir liefern täglich für Euch nach Hause“ und einer Telefonnummer dazu.
Positive Entwicklungen
Begeistert ist Isabelle Schmied von der Verkehrsberuhigung vor ihrer Ladentür. Vor einem Jahr hat sie hier ihr Geschäft „Glore“ für nachhaltige Mode aus fairem Handel eröffnet, weil die Straße zur Fußgängerzone geworden ist. Der Erfolg bestätigt ihre Entscheidung: „Die Menschen haben Zeit, durch die Straße zu gehen, die Schaufenster werden wahrgenommen. Ich bin sehr zufrieden. Läuft gut.“ Sie würde gerne Sitzgelegenheit vor ihrem Laden aufstellen und vielleicht einen Trinkbrunnen.
Wie viele denkt die junge Frau über Lösungen nach, die allen entgegenkommen. Die Stadt Graz habe am Stadtrand zahlreiche Park-and Ride-Plätze gebaut. In der Innenstadt könne man kostenlos mit Bus und Bahn fahren. So kämen weniger Auswärtige mit dem Auto in die Stadt.

Die Stadt Rotterdam bietet den Einzelhändlern sogenannte Parklets an, die sie auf die Parkplätze vor den Läden legt. Darauf sind Fahrradständer, Sitzgelegenheiten oder Pflanzkästen für Blumen, Büsche und kleine Bäume montiert. Wenn die Händler damit nicht zufrieden sind, holt die Stadt die Parklets kostenlos wieder ab und der Parkplatz ist wieder nutzbar. Fazit: Die Einzelhändler wollen die Parklets behalten und bestellen weitere. Die Stadt kommt mit dem Verlegen kaum hinterher.

Hier meine Deutschlandfunk-Reportage zur Verkehrswende in Rotterdam zum Nachhören:

Einige spanische Städte sperren manche Straßen nur für den Durchgangsverkehr oder nur zu bestimmten Zeiten. Bekannt geworden sind die Kiezblocks (auf katalanisch: Super Illes) in Barcelona. Dort versperren Pfosten Autos den geraden Weg durch einzelne Wohn- und Mischgebiete. So sperrt man den Durchgangsverkehr aus. Die Häuser sind aber weiterhin mit dem Auto erreichbar.


Ein ähnliches Projekt im Berliner Gräfe-Kiez will die schwarz-rote Stadtregierung wieder zurückbauen, weil es angeblich den Autoverkehr benachteiligt.
Versöhnliche Töne
Mit solchen Regeln könnte sich sogar Trixi Obermaier anfreunden. Die Modehändlerin meint, man solle aus der Weißenburger Straße eine Fahrradstraße mit Kurzzeitparkplätzen für die Einzelhändler machen. Abends könnten dort dann die Anwohner ihre Autos abstellen.

Mobilitätsreferent Georg Dunkel ist für Vorschläge offen. Die Fußgängerzone in der Weißenburger Straße war ein Versuch, der wie geplant am 31. Juli endet.
Die Einstellung zur Verkehrsberuhigung scheint auch eine Frage des Alters zu sein. Viele Jüngere freuen sich über die Entschleunigung, bessere Luft, mehr Ruhe und den Gewinn an Lebensqualität, während Ältere eher schimpfen. Sie sind das Auto vor der Tür gewöhnt und öfter darauf angewiesen, weil sie nicht mehr so beweglich sind.
Info:
ökologischer Verkehrsclub Deutschlands VCD mit vielen Tipps zu nachhaltiger Fortbewegung deutschlandweit
Forschung zum Thema:
Deutsches Institut für Urbanistik DIFU